Aktuelles zum Leistungsausschluss
je. Mit dem am 31.10.2025 in Kraft getretenen sogenannten Sicherheitspaket wurde in § 1 AsylbLG Abs. 4 neu eingeführt: Dieser sieht für bestimmte Fallgruppen einen kompletten Ausschluss von Sozialleistungen vor. Wir informieren in diesem Text über aktuelle Entwicklungen rund um das Thema Leistungsausschluss. Zunächst wird die rechtliche Grundlage dargestellt, anschließend näher eingegangen auf die Voraussetzung des Nicht-Besitzes einer Duldung. Daraufhin wird ein Blick auf die aktuelle Weisungslage in Thüringen geworfen und die Hinweise des Bundesministeriums des Innern werden umrissen sowie auf die Rechtsprechung eingegangen. Am Schluss finden sich Hinweise für die Beratungspraxis.
Rechtliche Grundlage
Zu den vom Leistungsausschluss gem. § 1 Abs. 4 AsylbLG Betroffenen gehören Menschen, die sich in einem Dublin-Verfahren befinden und Menschen, die bereits von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder von einem am Verteilmechanismus teilnehmenden Drittstaat im Sinne von § 1 Abs. 4 S. 1 AsylbLG einen internationalen Schutzstatus erhalten haben.
Diese erfüllen aber nur dann die Voraussetzungen für den Leistungsausschluss, wenn sie darüber hinaus nicht im Besitz einer Duldung sind. Dies trifft auf Leistungsberechtigte gem. § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylG zu: Sie sind ausreisepflichtig, aber nicht Inhaber*innen einer Duldung. Weiterhin muss eine freiwillige Ausreise möglich sein. Falls alle Voraussetzungen erfüllt sind, werden nur noch Überbrückungsleistungen für einen Zeitraum von zwei Wochen gewährt. Nur in Härtefällen sieht die Norm eine weitere Leistungsgewährung vor (vgl. § 1 Abs. 4 S. 6 AsylbLG).
„Keine Duldung“
Die Voraussetzung des Nicht-Besitzes einer Duldung wirft Fragen auf: Was gibt es überhaupt statt der Duldung, also der Bescheinigung über die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung? Welchen aufenthaltsrechtlichen Status haben diese Menschen dann?
Das Bundesministerium des Innern (BMI) unterstützt die Praxis der Nicht-Duldungs-Erteilung in Dublin-Fällen. In der Handlungsempfehlung vom 10.04.2025 heißt es: „Das Ausstellen von Duldungen nach § 60a AufenthG für vollziehbar ausreisepflichtige Personen nach Zustellung des Dublin-Bescheids ist nach Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte rechtswidrig. Es wird gebeten, dass die Ausländerbehörden diese Praxis einstellen.“ (Quelle 1) Nach Auffassung des BMI ergibt sich der „aufenthaltsrechtliche Status des Ausreisepflichtigen […] bereits aus dem Dublin-Bescheid.“ Die Ausländerbehörden sollen die Aufenthaltsgestattung „ungültig“ stempeln, diese „verbleibt bei der ausreisepflichtigen Person.“ Zusätzlich können die Ausländerbehörden eine „Dublin-Verfahrensbescheinigung“, die „unterhalb der Duldung“ liegt, ausstellen; diese Bescheinigung diene lediglich informatorischen Zwecken und existiert bislang weder im Asyl- noch im Aufenthaltsgesetz.(Quelle 2)
Diese Praxis der Nicht-Ausstellung einer Duldung ist jedoch höchst umstritten. Gem. § 60a Abs. 4 AufenthG gilt: „Über die Aussetzung der Abschiebung ist dem Ausländer eine Bescheinigung auszustellen.“ Damit ist die Ausstellung einer Duldung gemeint. Der Frage nach der Ausstellung einer Duldung ist bereits das Bundesverfassungsgericht nachgegangen. Das Bundesverfassungsgericht stellte mit dem Urteil vom 06.03.2003 2 BvR 397/02 (Quelle 3) fest: „Es entspricht der gesetzgeberischen Konzeption des Ausländergesetzes, einen vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen entweder unverzüglich abzuschieben oder ihn nach § 55 Abs. 2 AuslG zu dulden.“ Laut dem Bundeverfassungsgericht „ist keine Konstellation vorstellbar, in der der Ausländer nicht einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung hätte“. (Quelle 4)
Auch der Beschluss des Verwaltungsgerichtes Weimar besagt: „Die Systematik des Aufenthaltsrechts lässt grundsätzlich keinen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt. Vielmehr geht das Gesetz davon aus, dass ein ausreisepflichtiger Ausländer entweder abgeschoben wird oder zumindest eine Duldung erhält“.
Dem Verwaltungsgerichtshof Bayern zufolge ist sogar eine Aufenthaltsgestattung während des Dublin-Verfahrens zu erteilen: Die nationale Bestimmung des § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG, wonach die Aufenthaltsgestattung mit der Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG erlischt, kollidiert mit Unionsrecht. Anwendungsvorrang hat das unionsrechtliche Bleiberecht nach Art. 9 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie). Von dem Zeitpunkt der Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung bis zum Ablauf der Dublin-Überstellungsfrist ist der Aufenthalt zu gestatten. Die Aufenthaltsgestattung erlischt nicht mit der Abschiebeanordnung. (Quelle 5) Seit Ende Juni 2025 ist diese Entscheidung rechtskräftig.
In Thüringen werden seit Anfang 2025 in einigen Landkreisen für Menschen im Dublin-Verfahren oder für Menschen mit einem internationalen Schutzstatus in einem anderen EU-Mitgliedstaat keine Duldungen ausgestellt: Entweder werden die bis dahin ausgestellten Aufenthaltsgestattungen mit einem „UNGÜLTIG“-Stempel versehen. Oder es werden die oben genannten informatorischen DIN-A4-Schreiben ausgegeben. Auf diesen wird etwa kurz vermerkt, dass sich die Person im Dublin-Verfahren befindet und sich die Person mit dem abgelehnten Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ausweisen soll.
Problematisch daran ist, dass im Dublin-Verfahren keine freiwillige Ausreise vorgesehen ist, und mit diesen selbst entworfenen Bescheinigungen auch nicht möglich wäre.
Thüringer Weisung vom 03.04.2025
Die Weisung vom 03.04.2025 des Thüringer Landesverwaltungsamts (Quelle 6) gibt landesweite Anwendungshinweise an die Sozialämter zum Umgang mit dem neuen § 1 Abs. 4 AsylbLG.
Dieser regelt den Leistungsausschluss bei Dublin-Fällen sowie bei Personen, denen in einem anderen Mitgliedstaat der EU oder von einem am Verteilmechanismus teilnehmenden Drittstaat internationaler Schutz gewährt wurde. Voraussetzung ist in beiden Fällen, dass keine Duldung erteilt ist und dass das BAMF die Ausreise für rechtlich und tatsächlich möglich hält. Zudem finden sich in den Anwendungshinweisen Erläuterungen, wann und unter welchen Umständen welche Härtefallleistungen gewährt werden können. Auch findet sich ein Hinweis auf die Informationspflicht seitens der Leistungsbehörden. Dem Thüringer Erlass ist das Schreiben des BMI vom 07.02.2025 beigefügt (s. u.)
Da die oben genannte Entscheidung vom VGH Bayern inzwischen rechtskräftig ist, bleibt abzuwarten, inwiefern Thüringen hier seine Anwendungshinweise anpasst. Personen im Dublin-Verfahren, denen keine Duldung bzw. Gestattung erteilt wurde, sollten einen Antrag auf Duldung bzw. Aufenthaltsgestattung mit Verweis auf die VGH-Entscheidung stellen.
BMI-Schreiben vom 07.02.2025
Das BMI-Schreiben vom 07.02.2025 regelt, dass die Dublin-Bescheide zukünftig folgende Passage enthalten:
„Die Ausreise ist rechtlich und tatsächlich möglich. Der Anwendungsbereich des Leistungsausschlusses nach § 1 Abs. 4 AsylbLG ist (mit Zustellung des Dublin-Bescheides) eröffnet […].“ Wenn der Bescheid die o. g. Passage enthält, sind zielstaats- und inlandsbezogene Abschiebungshindernisse oder -verbote bereits durch das BAMF geprüft worden und das BAMF ist zu dem Ergebnis gekommen, dass diese nicht vorliegen. Mit der o. g. Passage will das BMI die rechtliche und tatsächliche Möglichkeit der freiwilligen Ausreise kenntlich machen. (Quelle 7) Das BMI-Schreiben vom 07.02.2025 enthält aber auch eine Ausnahme: Dublin-Bescheide betreffend die EU-Mitgliedstaaten Italien und Griechenland sollen die entsprechende Passage nicht enthalten. Bei diesen EU-Mitgliedsstaaten geht das BAMF davon aus, dass zurzeit eine Ausreise tatsächlich nicht möglich ist. Ein Leistungsausschluss sollte in diesen Fällen also nicht ausgesprochen werden.
Rechtsprechung in Thüringen und anderen Bundesländern
Das Sozialgericht Altenburg kam in mehreren Beschlüssen (Quelle 8) zu der (vorläufigen) Entscheidung, dass Leistungskürzungen rechtswidrig sind. Die dem Flüchtlingsrat Thüringen e. V. vorliegenden Beschlüsse des SG Altenburg betreffen Dublin-Fälle mit dem zuständigen EU-Mitgliedstaat Italien. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid wurde in diesen Fällen vom SG Altenburg angeordnet. Damit wird das Sozialamt verpflichtet, bis zur Entscheidung über die Hauptsache Leistungen nach dem AsylbLG zu zahlen. Ob diese positiven Entscheidungen des SG Altenburg auch auf Menschen im Dublin-Verfahren mit Zuständigkeit anderer EU-Mitgliedstaaten übertragen werden können, lässt sich noch nicht beantworten. Unstrittig sollte aber mit Blick auf das BMI-Schreiben vom 07.02.2025 (s. o.) sein, dass Dublin-Fälle betreffend Italien und Griechenland derzeit nicht unter den Leistungsausschluss fallen.
Das Sozialgericht (SG) Gotha hat dagegen in mindestens zwei Beschlüssen die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Sozialamtes verneint.(Quelle 9) In beiden Fällen wurde Beschwerde vor dem Landessozialgericht (LSG) Thüringen eingelegt. Das LSG Thüringen bestätigte bereits in einem Beschluss die Entscheidung des SG Gotha und wies die Beschwerde ab.(Quelle 10)
Das LSG Thüringen weicht mit seiner restriktiven Entscheidung beispielsweise vom Landesgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen ab (Quelle 11): Das LSG Niedersachsen-Bremen setzt sich mit dem Unionsrecht auseinander und erkennt, dass sich im Hauptsacheverfahren äußerst strittige Rechtsfragen bzgl. des § 1 Abs. 4 AsylbLG hinsichtlich dessen Vereinbarkeit mit verfassungs- und unionsrechtlichen Vorgaben ergeben werden. Außerdem macht das LSG Niedersachsen-Bremen deutlich, dass die Dublin-III-Verordnung faktisch keine freiwillige Ausreise kennt. Schließlich verpflichtet das LSG Niedersachsen-Bremen das zuständige Sozialamt im Wege einer einstweiligen Anordnung, Leistungen nach dem AsylbLG zu gewähren. Auch Entscheidungen weiterer Sozialgerichte bestätigen die Nicht-Rechtmäßigkeit des Leistungsausschlusses. (Quelle 12) Das Hauptsacheverfahren vor dem LSG Thüringen läuft noch. Vor dem Hintergrund der divergierenden Rechtsprechung des LSG Thüringen werden derzeit Rechtsmittel gegen die Entscheidung geprüft.
Praktische Hinweise
Welche praktischen Interventionsmöglichkeiten gibt es für Betroffene und Beratungsstellen im Falle eines Leistungsausschlusses durch das Sozialamt? Eine Übersicht finden Sie auf der Homepage des Flüchtlingsrates Thüringen e. V. Folgende Schritte sind ratsam:
Eine Duldung beantragen: Mit Ausstellung einer Duldung sind die Voraussetzungen für einen Leistungsausschluss nicht mehr gegeben. Eine Vorlage für die Beantragung einer Duldung finden Sie auf der Homepage des Flüchtlingsrates Thüringen e. V.
Aufenthaltsgestattung beantragen: Personen im Dublin-III-Verfahren können, wie oben ausgeführt, mit Verweis auf das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Bayern eine Aufenthaltsgestattung beantragen.
Auf die Anhörung reagieren und Härtefallleistungen beantragen: Im Falle eines Leistungsausschlusses handelt es sich um einen belastenden Verwaltungsakt. Daher ist den Betroffenen gem. § 28 VwVfG „Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern“. Im Rahmen dieser Äußerung sollten Härtefallleistungen beantragt werden.
Gegen den Bescheid Widerspruch einlegen und mit eine*r Rechtsanwält*in besprechen, ob Eilrechtsschutz beim zuständigen Sozialgericht beantragt werden sollte. In Thüringen gibt es eine Reihe von im Asylbewerberleistungsgesetz aktiven Anwält*innen. Weitere in diesem Bereich tätige Anwält*innen sind auf der Homepage des Flüchtlingsrates Niedersachsen e. V. zu finden.
Quellen
1) Handlungsempfehlung des Bundesministeriums des Inneren vom 10.04.2025, S. 2. Abrufbar unter: https://www.ggua.de/fileadmin/downloads/Dublin/20250410_Handlungsempfehlung_BMI_Dublin.pdf [abgerufen am 20.06.2025]
Das BMI bezieht sich dabei auf einen Beschluss des BVerfG. Dieses entschied am 17. September 2014, dass es „Aufgabe allein des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge [ist] zu prüfen, ob „feststeht“, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Das Bundesamt hat damit sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu prüfen, sodass daneben für eine eigene Entscheidungskompetenz der Ausländerbehörde zur Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG kein Raum verbleibt.“ Dass das BAMF und nicht die Ausländerbehörde sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu prüfen hat, ist unstrittig. Aus dem Beschluss des BVerfG allerdings abzuleiten, dass deshalb die Ausländerbehörden keine Duldungen ausstellen sollen, ist mehr als fragwürdig.
2) Handlungsempfehlung des Bundesministeriums des Inneren vom 10.04.2025, S. 3ff.
3) BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. März 2003 – 2 BvR 397/02 -, Rn. 1-46, abrufbar unter: https://www.bverfg.de/e/rk20030306_2bvr039702
4) Verwaltungsgericht Weimar, Beschluss vom 18.03.2024, Az: 2 E 1679/23 We
5) Bayerischer VGH, Urteil vom 21.05.2025 – 19 B 24.1772, RN 22. Das Urteil des VGH Bayern ist abrufbar unter: https://openjur.de/u/2523684.html
6) Schreiben des Thüringer Landesverwaltungsamtes vom 03.04.2025: Gesetz zur Verbesserung der inneren Sicherheit und des Asylsystems. Hier: Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Das Schreiben des Thüringer Landesverwaltungsamtes ist abrufbar unter: https://www.fluechtlingsrat-thr.de/sites/fluechtlingsrat/files/images/2025%2004%2003%20LVA%20Th%C3%BCr%2C%20Weisung%20Leistungsauschluss%20AsylbLG.pdf [abgerufen am 20.06.2025]
7) Zweifel an der Rechtmäßigkeit des im BMI-Schreiben angewiesenen Vorgehens wirft der Beschluss des Landesssozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 13.06.2025 – Az.: L 8 AY 12/25 B ER auf
8) Sozialgericht Altenburg, Beschluss vom 20.03.2025 – Az.: S 24 AY 296/25 ER. Außerdem Az.: S 24 AY 267/25 ER und Az.: S 24 AY 279/25 ER
9) Sozialgericht Gotha, Beschluss von 13.03.2025 – Az.: S 5 AY 108/25 ER und Beschluss vom 30.05.2025 – Az.: S 5 AY 482/25 ER
10) Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 16.05.2025 – Az.: L 8 AY 222/25 B ER
11) Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13.06.2025 – Az.: L 8 AY 12/25 B ER
12) Sozialgericht Landshut, Beschluss vom 18.12.2024 – Az.: S11 AY 19/24 ER; Sozialgericht Darmstadt, Beschluss vom 30.05.2025 – Az.: S 30 AY 35/25 ER