Die Wiederkehr des ewig Gestrigen

Die Bezahlkarte: Diskriminierung statt Menschenwürde?

jk. Am 18.07.2012 prägte das Bundesverfassungsgericht einen legendären Satz: „Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“.

Im damaligen Verfahren ging es um die Frage der Höhe der existenzsichernden Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Dieser Satz sollte auf T-Shirts gedruckt werden und an die politisch Verantwortlichen verteilt werden, die sich aktuell mit Behauptungen hervortun, dass die Bezahlkarte ein Erfolgsmodell sei.

In den Landkreisen Schmalkalden-Meiningen, Greiz oder Eichsfeld unterstützt sie Geflüchtete angeblich dabei, eine Arbeit zu finden, motiviert zur Ausreise und unterbindet Überweisungen in die Herkunftsländer. Anscheinend kann die Bezahlkarte Arbeitsverbote aufheben, Herkunftsländer kooperativ stimmen und die Not der zurückgebliebenen Familien lindern.

Stand der Umsetzung der Bezahlkarte in Thüringen
Ist das wirklich so? Ein genauerer Blick lohnt sich: Aktuell läuft ein bundesweites Ausschreibungsverfahren für eine bundesweit einheitliche Bezahlkarte. Die Verhandlungen sollen Ende Juli abgeschlossen sein. Die Ministerpräsident*innen haben sich auf einheitliche Standards geeinigt: 50 € Bar-Auszahlungsbetrag, keine Überweisungsmöglichkeiten (weder im In- noch ins Ausland). Ministerpräsident Ramelow erinnerte in einer Protokollnotiz bei der MPK an den vereinbarten Auszahlungskorridor von 50–120 € je Erwachsenem.

Die Entwicklungen auf Bundesebene waren den politisch Verantwortlichen in den Kommunen zu langsam und so gibt es aktuell in den Landkreisen verschiedene Modelle und Anbieter der Bezahlkarte.

Laut der Berichterstattung von Focus und MDR zu Thüringen wollten alle Landkreise die Bezahlkarte spätestens zum 01.06.2024 einführen, die kreisfreien Städte halten sich bisher zurück und warten auf eine landesweit einheitliche Lösung.

Die Kommunen haben unterschiedliche Anbieter gewählt und zahlen unterschiedliche Bargeldbeträge aus. Positiv bewerten Geflüchtete, dass nicht mehr die gesamten Sozialleistungen bar ausgezahlt werden, sodass am Monatsanfang kein größerer Betrag sicher verwahrt werden muss. Schwierigkeiten bereiten die Einschränkungen durch die Bezahlkarte: die Eingrenzung von Postleitzahlengebieten, innerhalb derer mit der Karte bezahlt werden kann. Günstige Einkaufsmöglichkeiten wie z. B. Flohmärkte, um Kinderkleidung oder günstiges Spielzeug zu kaufen, sind dadurch unter Umständen schlechter nutzbar.

Für laufende Verträge für das 49-Euro-Ticket müssen die Mitarbeiter*innen im Sozialamt eigens eine Freigabe einstellen bzw. die Geflüchteten müssen trotzdem ein Konto eröffnen (was ihnen rechtlich zusteht). Die Realität ist, dass in Thüringen asylsuchende Menschen zumeist in ländlichen Räumen leben müssen. Nicht jeder Nahversorger akzeptiert die Karten. Für Abhebungen am Geldautomaten müssen von den geringen existenzsichernden Leistungen zusätzlich Gebühren bezahlt werden.

Diskriminierungssensible Umsetzungsmöglichkeiten
Grundsätzlich ist der Ansatz, Sozialleistungen nicht in bar auszuzahlen, begrüßenswert. Die Notwendigkeit einer diskriminierenden Debatte dazu erschließt sich nicht.

Die einfachste und auch für die Verwaltung entlastende Lösung wäre gewesen, flächendeckend die Auszahlung der Sozialleistungen auf Bankkonten zu veranlassen. Keine Ausschreibungen wären nötig gewesen, kein landesweiter Flickenteppich, keine zusätzlichen Kosten für die Kommunen.

Wenn Bezahlkarte, dann teilhabeorientiert:
In der Stadt Hannover können sämtliche Sozialleistungen abgehoben werden, es gibt keine zusätzliche Bevormundung. Die Stadt nutzt die Karte zur Verwaltungsvereinfachung und um Teilhabe zu ermöglichen, nicht zur Stigmatisierung, wie ihr Oberbürgermeister Belit Onay in der Tagesschau klarstellt.

Die meisten Kartensysteme haben eine IBAN hinterlegt, diese könnte den Kartennutzer*innen freigegeben werden, womit auch Überweisungen möglich würden. Eine Begrenzung auf bestimmte Postleitzahlgebiete schränkt auch die Möglichkeiten zur Arbeitsaufnahme ein. Wenn am zukünftigen Arbeitsort keine Bezahlung von ÖPNV-Tickets oder Lebensmitteln möglich ist, ist das Gebiet, in dem eine Arbeit aufgenommen werden kann, von vornherein begrenzt.

Aktuell ist eine landesweite Karte in Thüringen in der Vorbereitung. Im Sinne einer humanitären Asylpolitik sollten Handlungsspielräume genutzt werden und eine diskriminierungsfreie Umsetzung etabliert werden: eine bundesweit nutzbare Karte mit der Möglichkeit zu Überweisungen und vollständiger, gebührenfreier Bargeldabhebung.

Solidarisch im Alltag könnte eine Handlungsmöglichkeit aus den Jahren vor 2015 wieder aufgegriffen werden: gemeinsam mit Karteninhaber*innen einkaufen und ihnen den Einkaufsbetrag in bar auszahlen.