EuGH-Urteil stärkt Flüchtlingsschutz afghanischer Frauen

In seinem Urteil vom 04.10.2024 kommt der Europäische Gerichtshof (EuGH) zu dem Ergebnis, dass die systematische Unterdrückung von Frauen durch die Taliban für sich stehend bereits als Verfolgung einzustufen ist. Geklagt hatten zwei Frauen aus Afghanistan, denen im österreichischen Asylverfahren statt der Flüchtlingseigenschaft nur der subsidiäre Schutz zuerkannt wurde.

Um die Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) festzustellen, sei es daher nicht erforderlich, die spezifischen Verfolgungshandlungen, die Asylantragsteller*innen bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen, glaubhaft zu machen.

Vielmehr reicht es für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft aus, die Staatsangehörigkeit – afghanisch – und das Geschlecht – weiblich –, heranzuziehen. Damit seien die Voraussetzungen für die Erteilung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt.

Die Kumulierung unterschiedlicher Praxen und Beschränkungen, die unter dem Regime der Taliban vorherrschen, beeinträchtigt die durch Art. 1 der Charta der Grundrechte der EU gewährleistete Wahrung der Menschenwürde. Dazu zählen zum Beispiel Zwangsverheiratungen, der Zwang zu Gesichtsverhüllung, der beschränkte Zugang zu medizinischen Leistungen, Beschränkung bei der Wahl der Erwerbstätigkeit oder die Verwehrung, Bildung zu erhalten oder am politischen Leben zu partizipieren.

Aus dem EuGH-Urteil ergeben sich Handlungsoptionen für afghanische Frauen in Deutschland: Sie können gegebenenfalls einen Asylfolgeantrag gem. § 71 AsylG stellen, wenn sie nur eine Duldung oder einen schlechteren Schutzstatus (Abschiebeverbot, subsidiärer Schutz) haben. Die Sinnhaftigkeit muss im Einzelfall geprüft werden.

Ein Folgeantrag mit Verweis auf dieses Urteil ist allerdings nicht möglich, wenn in einem anderen EU-Mitgliedstaat ein internationaler Schutzstatus erteilt wurde und diesbezüglich eine Duldung oder ein Abschiebungsverbot besteht.

Damit ein Asylfolgeantrag als zulässig eingestuft wird, sind Wiederaufgreifensgründe erforderlich. Wiederaufgreifensgründe können durch eine geänderte Sach- oder Rechtslage (§ 51
Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) oder durch neue Beweismittel (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) vorliegen.
Ob höchstrichterliche Rechtsprechung, wie hier die des EuGH, eine Änderung der Rechtslage dargestellt, ist umstritten. Nach dem BVerwG stellen höchstrichterliche Entscheidungen keine Änderung der Rechtslage dar. Eine andere Auffassung besagt, dass bei Grundsatzentscheidungen vom BVerwG, BVerfG und EuGH durchaus eine Änderung der Rechtslage anzunehmen sei, weil diesen in der Praxis gesetzliche Wirkung zukäme.

Durch höchstrichterliche Rechtsprechung bezüglich einer neuen Einschätzung der Gegebenheiten in einem Herkunftsland kann sich auch eine geänderte Sachlage herausstellen. Dies ergibt sich dann, wenn diese Rechtsprechung auf neuen Erkenntnisquellen basiert. Daher ist es empfehlenswert, die Stellung eines Asylfolgeantrages zu prüfen – trotz des Beschlusses des BVerwG.

Quellen

EuGH, Urteil vom 04.11.2024, verbundene Rechtssachen C-608/22 und C-609/22: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:62022CJ0608

BVerwG, Urteil vom 22.10.2009 – 1 C 26.08 – Rn. 16.

Marx (2017): Kommentar zum AsylG, 9. Aufl., Rn. 61 ff.

Eichler, Kirsten (2018): Der Asylfolgeantrag. Zu den Voraussetzungen für die erneute Prüfung von Asylanträgen und zum Ablauf des Folgeverfahrens, S. 31. Abrufbar unter: https://www.asyl.net/view/broschuere-der-asylfolgeantrag [abgerufen am 22.10.2024]