„Geflüchtete nicht arbeiten zu lassen, halte ich für einen Frevel.“

Interview mit Bodo Ramelow, Ministerpräsident des Freistaats Thüringen

cw. Die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten ist Bodo Ramelow, Ministerpräsident von Thüringen, eine Herzensangelegenheit. Für „BLEIBdran+ Das Magazin“ hat er uns ein Interview gegeben.

BLEIBdran+: Wir haben uns sehr darüber gefreut, dass Sie sich regelmäßig für einen verbesserten Arbeitsmarktzugang für Geflüchtete aussprechen. Warum ist Ihnen das Thema ein Anliegen?

Bodo Ramelow: Es hat zwei Facetten: Einmal ist es die Erkenntnis, dass wir jedes Talent brauchen, jeden Menschen, jeden mit jeder Fähigkeit, die er oder sie hat. Wir können uns gar nicht erlauben, auf Menschen zu verzichten. Jeder Mensch, der bei uns lebt, muss das Recht haben, mit seiner Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt verdienen zu können. Die Hürden dafür sind noch immer zu hoch.

Ich habe das in Nordhausen erlebt, da haben wir junge Geflüchtete in Berufsausbildung vermittelt. Als es Zeugnisse gab, haben mich einige mit traurigen Augen angeschaut. Gegen sie wurde nämlich mitten in der Ausbildung ein Abschiebeverfahren eröffnet. Und das, obwohl die gesetzliche Grundlage klar ist.

Deutschland bietet ihnen die Chance, die komplette Ausbildung zu machen und eigentlich danach noch zwei Jahre tätig sein zu können. Das ist der Rahmen, den der Bundesgesetzgeber gibt.

Wenn man bei der Behörde nachfragt, wird einem aber gesagt: „Wir wissen das. Aber dann ist es zu spät, ein Abschiebeverfahren einzuleiten. Also machen wir es jetzt, obwohl es vielleicht gar nicht vollzogen werden kann.“

Was das mit Menschen macht! Deshalb sage ich: Jeder Mensch der bei uns lebt, muss das Recht und die Möglichkeit haben, mit seiner Hände Arbeit seinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen und dann auch bleiben zu dürfen.

BLEIBdran+: Wie erklären Sie sich, dass die Bundesregierung sich so schwer damit tut, die Arbeitsverbote abzuschaffen? Es steht im Koalitionsvertrag, es werden dringend Fach- und Arbeitskräfte benötigt und auch Umfragen zufolge gibt es einen breiten Rückhalt dafür in der Bevölkerung.

Bodo Ramelow: Wir haben schon eine ganze Menge an Veränderungen bekommen. Zum Beispiel den Spurwechsel. Der ist von den vorherigen Regierungen immer abgelehnt worden. Vor allem von CDU/CSU und FDP hieß es immer, das sei ein Pull-Effekt, dann kämen alle, dann hätten wir überhaupt keine Begrenzung mehr und Ähnliches. Bis jetzt stand im Bundesgesetz, wer den Asylantrag zurücknimmt, verliert seinen Aufenthaltsstatus. Das ist jetzt geändert worden.

Wir müssen nun aber das dicke Brett bohren und den Ausländerämtern klarmachen, dass es um ein Ermöglichen geht, und da steht ein Mentalitätswandel auf der Tagesordnung. Deswegen brauchen wir in Thüringen auch ein zentrales Landesamt für Migration. Bislang scheiterte das an der fehlenden Mehrheit im Parlament. Mit einer Zentralbehörde ginge vieles einfacher: Wer will, nimmt seinen Asylantrag zurück und wechselt in das Arbeitsmigrationsverfahren. Dann wird er vermittelt – entweder in Ausbildung oder direkt in Arbeit.

BLEIBdran+: Die Voraussetzungen für den Spurwechsel nach den §§ 18a, 18b und 19c, die Sie ansprechen, sind natürlich enorm hoch …

Bodo Ramelow: Es ist immer eine Frage von: ist das Glas halb voll oder halb leer? Und bis vor einiger Zeit ging es ja gar nicht. Aber solange das gesamte Ausländerrecht und unser Staatsbürgerrecht auf Abwehr ausgerichtet sind, gehen Veränderungsprozesse insgesamt zu langsam.

BLEIBdran+: Sie kritisieren auch, dass die Ausländerbehörden sehr lange brauchen, um Arbeitserlaubnisse zu erteilen. Möchten Sie das dann auch durch die Zentrale Ausländerbehörde lösen, sollen die dann zuständig sein?

Bodo Ramelow: Wir wollen Beschleunigungsprozesse organisieren, zum Beispiel durch Standardisierung. Wenn wir Fallgruppen bilden und sagen, „wenn ihr es mit dieser Fallgruppe zu tun habt, dann kann wie folgt verfahren werden“, geht es schneller.

Bisher muss jedes Ausländeramt alle Fragen und Problemstellungen von Jesiden über Syrer bis hin zu koptischen Christen bearbeiten. Damit überfordern wir unsere eigene Verwaltung.

Deswegen würde ich das gerne so sehen, dass eine Standardisierung über die Zentrale Ausländerbehörde stattfindet, Fallgruppen gebildet werden und nach diesen Fallgruppen gearbeitet wird.

Ich weiß, dass über 1.000 Jesiden in Thüringen leben. Das sind alles fleißige Leute, alles hoch motivierte Leute, die haben einfach Angst, dass manche von ihnen zwischenzeitlich abgeschoben werden. Ich finde, Jesiden darf man nicht in den Kriegsgebieten, in denen sie die Verfolgten sind, in die Arme der Verfolger treiben.

BLEIBdran+: Rot-rot-grün hat ja in den letzten Jahren ganz viel getan, um die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten zu verbessern, auch unser Netzwerk wird in Teilen kofinanziert durch das TMASGFF. Was waren denn aus Ihrer Sicht die wichtigsten Bausteine zur Unterstützung der Arbeitsmarktintegration?

Bodo Ramelow: Zunächst einmal haben wir die Zugangsbrücke in den Arbeitsmarkt verstärkt. Mit der German Professional School werden wir das Angebot noch mehr verbreitern. Zu häufig müssen wir in Einzelfälle eingreifen. Zum Beispiel werden Ausbildungspapiere nicht anerkannt oder eine Zugangsvoraussetzung anders interpretiert.

Ich will das mal an einem Punkt verdeutlichen: Wir haben 900 anerkannte Berufsbilder und 700 Anerkennungsstellen.

Mit Da Nang in Vietnam haben wir es jetzt so organisiert, dass die erste Lebensmittel-Fachschulausbildung für Lebensmitteltechniker dort Abschlüsse ermöglicht, die ein IHK-Abschluss bei uns sind. Das sind die Maßnahmen mit dem Ziel, Arbeitsmigration aktiv zu begleiten und zu ermöglichen.

In diesem Prozess tauchen noch sehr viele Hürden auf, die es zu überwinden gilt. Auch den Menschen, die als Geflüchtete gekommen sind, muss dieser Weg der Arbeitsintegration offenstehen.

Integration gelingt am besten über eine Sozialisierung im Betrieb.

BLEIBdran+: Ja, das ist tatsächlich auch unser Wunsch, dass da eben nicht immer so unterschieden wird zwischen Fachkräften und Geflüchteten.

Bodo Ramelow: Ehrlicherweise geht es gar nicht mehr nur um Fachkräfte. Auf dem Arbeitsmarkt gibt es inzwischen Angebote für jedes Talent. Wir müssen da pragmatisch sein und jeden und jede nach seinen und ihren Möglichkeiten einbinden.

BLEIBdran+: Wir haben jetzt über Menschen gesprochen, die nach Thüringen kommen, aber bei uns ist auch ein ganz großes Thema, dass viele unserer Klient*innen Thüringen so schnell wie möglich verlassen möchten, sobald das die Wohnsitzregelung erlaubt. Vor allem auch aufgrund der massiven Rassismuserfahrungen, die in unserer Wahrnehmung in den letzten Jahren noch mal zugenommen haben. Wie schaffen wir es denn als Bundesland, für Migrant*innen und insbesondere auch für Geflüchtete attraktiv zu werden?

Bodo Ramelow: Das werden wir erst wirklich schaffen, wenn die Mehrheitsgesellschaft merkt, dass das etwas mit ihrem Leben zu tun hat.

Ich muss das so sagen: meine Frau ist Italienerin, Hochschuldozentin. Sie erzählt mir regelmäßig von Erfahrungen aus ihrem Alltag. Dass sie sich fragen lassen muss, ob sie auch Deutsch könnte. Meine Frau spricht sechs Sprachen fließend. Da verwundert diese Frage durchaus. Auch die wiederkehrende Frage: „Wo kommen Sie denn her?“ Wenn sie dann erwidert: „Aus Frankfurt“, dann wird die Frage „Wo kommen Sie wirklich her?“ noch hinterher geschoben.

Dass Racial Profiling Realität ist, habe ich jetzt erst wieder erlebt, als ich mit dem Zug zurück aus Polen kam. Mit mir im Zug saß ein Mann, bei dem mitreisende Bundespolizisten anscheinend aufgrund seines Äußeren einen Migrationshintergrund vermuteten. Er war der Einzige, der nach dem Ausweis gefragt wurde. Ich habe dann freiwillig meinen Ausweis rausgeholt und ihn der Bundespolizei gezeigt.

BLEIBdran+: Und wie ging es dann weiter?

Bodo Ramelow: Sehr freundlich. Offenbar hat ihnen mein Name doch etwas gesagt.

BLEIBdran+: Aber Sie können ja nicht jeden Tag in jedem Zugabteil sitzen …

Bodo Ramelow: Aber nicht wegzuschauen, sondern hinzugucken, kann jeder! Deswegen freue ich mich zum Beispiel über unsere Unternehmer, die Geflüchtete beschäftigen und sich kümmern. Der Weg bei 7,5 Prozent Nichtdeutschen, die wir in Thüringen haben, zu einer offeneren Gesellschaft ist noch ziemlich weit. Umso erfreulicher ist es, dass der Anteil der Erwerbstätigen bei Nichtdeutschen deutlich über dem Thüringer Schnitt an erwerbstätigen Deutschen liegt.

BLEIBdran+: Im September sind Landtagswahlen in Thüringen. Es steht viel auf dem Spiel, das macht uns natürlich allen Sorgen. Sie sind viel in Thüringen unterwegs und treffen oft Unternehmer*innen. Welche Sorgen äußern die denn Ihnen gegenüber mit Blick auf die Landtagswahlen?

Bodo Ramelow: Es ist so eine Ambivalenz. Ich nehme zur Kenntnis, dass ein Drittel der Bevölkerung dazu neigt, die AfD zu wählen, aber Herrn Höcke nicht will. Über mich sagen 44 Prozent, ich soll weitermachen, aber nach letzten Umfragen würden nur 14 bis 16 Prozent meine Partei wählen. Wenn Herr Höcke sagt: „die EU muss sterben“, dann sollten schon alle wissen, was das für unsere Unternehmen in Thüringen heißt.

Dass wir heute 100 Weltmarktführer und europäische Technologieführer haben, hat etwas mit dem europäischen Markt zu tun. Das müssen wir viel öfter laut sagen, dass in Thüringen der größte Pizzaofen Europas steht. Die größte Keksfabrik Europas steht in Thüringen. Die größte Glasflaschenfabrik der Welt steht in Thüringen.

Leider werden Sie auf die Frage, wie es wirtschaftlich bei uns geht, viel zu oft hören: „Alles ganz furchtbar.“ Diese Wahrnehmung hat uns auch der Thüringen-Monitor gezeigt. 80 Prozent sagen, es geht ihnen persönlich wirtschaftlich gut. 70 Prozent sagen allerdings auch, es gehe Thüringen wirtschaftlich schlecht. Das ist ein Widerspruch.

Deswegen sage ich: Wir müssen die Menschen ermutigen, zur Kenntnis zu nehmen, wie stark wir sind, denn wenn wir den ganzen Tag nur darüber lamentieren, wie schlecht es uns geht, dann werden wir unsere eigene Stärke auch noch kaputt reden.

BLEIBdran+: Vielleicht noch eine Frage zu Geflüchteten: Thüringen hat ja wunderbare Landesprogramme gemacht, wie LAT oder Start Bildung, letzteres ist bundesweit einzigartig als Grundbildungsprogramm. Gab es noch etwas, was Sie gerne für Geflüchtete umgesetzt hätten, was aber aufgrund der Minderheitsregierung nicht möglich war?

Bodo Ramelow: Dass das Landesamt für Migration nun erst einmal nicht kommen wird, schmerzt mich. Insbesondere, weil wir sieben Monate dafür gekämpft und gearbeitet haben. Kollegin Den-städt wollte das umsetzen und ist jedes Mal im Landtag nicht weitergekommen. Dass vor Vertreterinnen und Vertretern der Wirtschaft bei einer Podiumsdiskussion Anfang Juni dann ausgerechnet Mario Voigt so tat, als habe er das Ausländeramt auch gewollt, hat mich daher doch verwundert.

BLEIBdran+: Zumal die CDU ja auch einen Gesetzentwurf zur zentralen Ausländerbehörde eingereicht hat, also einen schrecklichen, aber …

Bodo Ramelow: Was der CDU wichtig war, ist eine zentrale Abschiebeeinrichtung. Sie fordert das, kann aber nicht einmal beantworten, wie man das juristisch umsetzen soll. Dann wird immer behauptet, das sei ein Ankerzentrum wie in Bayern, aber auch Bayern kann bis heute nicht sagen, wie sie es verfassungsrechtlich eigentlich machen wollen, Menschen daran zu hindern, dieses Objekt zu verlassen, denn es ist ja kein Gefängnis. Und Geflüchtete nicht arbeiten zu lassen, halte ich für einen Frevel.

BLEIBdran+: Das ist ein sehr schönes Schlusswort. Ganz, ganz herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.