Thüringen im Wandel

Wie sich der Arbeitsmarkt zwischen Strukturkrise und Zukunftschancen neu erfindet

Gastbeitrag von Markus Behrens | Vorsitzender der Geschäftsführung der Regionaldirektion Sachsen-Anhalt-Thüringen der Bundesagentur für Arbeit

Zeitenwende am Thüringer Arbeitsmarkt

Der Thüringer Arbeitsmarkt befindet sich in einer schwierigen Übergangsphase: Die wirtschaftliche Schwäche, der demografische Wandel, der technologische Umbruch und der anhaltende Fachkräftemangel stellen das Land vor Herausforderungen, wie sie in dieser Verdichtung selten zuvor auftraten. Die neuesten Einschätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeichnen ein differenziertes Bild: Während Beschäftigung sinkt und Arbeitslosigkeit steigt, bieten Digitalisierung und gezielte Zuwanderung jedoch auch Chancen für strukturelle Erneuerung und Stabilisierung. Der Freistaat Thüringen steht vor der Aufgabe, mutige Weichenstellungen vorzunehmen – für einen zukunftsfesten Arbeitsmarkt und eine widerstandsfähige Wirtschaft.

Rückläufige Beschäftigung – Thüringen mit bundesweitem Negativrekord

Laut IAB-Prognose wird Thüringen im Jahr 2025 einen Rückgang der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung um 0,8 Prozent verzeichnen. Während der Bund insgesamt ein leichtes Beschäftigungswachstum erwartet, bremsen konjunkturelle Schwächen besonders in Thüringen die Dynamik. Besonders betroffen: das verarbeitende Gewerbe, die Bauwirtschaft, der Handel sowie die Zeitarbeitsbranche.

Gleichzeitig meldeten Thüringer Arbeitgeber im Mai 2025 nur 2.800 neue Stellen – ein deutlicher Rückgang gegenüber dem Vormonat. Die Zahl der insgesamt gemeldeten Stellen lag bei rund 15.200 – ebenfalls unter Vorjahresniveau. Zwar stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im März 2025 leicht auf 786.100 Personen an, dieser saisonale Effekt ändert jedoch nichts am strukturellen Abwärtstrend.

Portrait von Markus Behrens
grafische Darstellung der Arbeitslosenzahlen

Anstieg der Arbeitslosigkeit trotz Frühjahrsbelebung

Trotz eines leichten Rückgangs der Arbeitslosenzahl im Mai 2025 auf 70.300 Personen (minus 0,5 Prozent zum Vormonat) bleibt die Lage angespannt. Die Arbeitslosenquote liegt mit 6,4 Prozent weiterhin über dem Niveau von Mai 2024 (6,1 Prozent). Zudem steigt die Zahl der Langzeitarbeitslosen: 24.900 Menschen waren länger als ein Jahr ohne Arbeit – ein Anstieg von 1.400 gegenüber dem Vorjahr.

Balkendiagramm der gemeldeten Stellen in Thüringen

Die anhaltend schwache Konjunktur dämpft die Einstellungsbereitschaft vieler Unternehmen deutlich.

Demografischer Wandel – Fachkräfte gehen, Lücken bleiben

Thüringen steht im Bundesvergleich besonders stark unter dem Einfluss des demografischen Wandels. Bis 2040 wird die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter um knapp 16 Prozent sinken – bundesweiter Negativrekord. Dieser Rückgang schlägt sich bereits jetzt auf dem Arbeitsmarkt nieder: Seit 2017 nimmt die Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten deutschen Arbeitnehmer*innen ab.

Die einzige Gruppe mit wachsender Erwerbsbeteiligung sind Menschen mit ausländischer Herkunft. Deren Zahl ist zwischen 2010 und 2024 von 6.600 auf 78.700 gestiegen. Besonders viele Beschäftigte aus dem Ausland arbeiten im verarbeitenden Gewerbe (17.000), der Arbeitnehmerüberlassung (13.000) sowie im Handel und Gastgewerbe (jeweils 6.400).

Digitalisierung und ökologische Transformation – Risiken und Chancen zugleich

Thüringen weist im Bundesvergleich einen hohen Anteil an Berufen mit Substituierbarkeitspotenzial durch Digitalisierung auf – besonders im verarbeitenden Gewerbe. Automatisierung, künstliche Intelligenz und digitale Prozesse verändern bestehende Tätigkeiten und machen viele klassische Berufsprofile überflüssig. Ohne gezielte Qualifizierung und Weiterbildung droht ein massiver Strukturverlust.

Doch es gibt auch positive Entwicklungen: Die digitale Transformation kann neue Geschäftsmodelle ermöglichen, Innovationspotenziale freisetzen und Arbeitsplätze in technologisch anspruchsvollen Bereichen schaffen – vorausgesetzt, die notwendigen Investitionen in Forschung, Weiterbildung und Infrastruktur erfolgen konsequent.

Fachkräftemangel – strukturell verfestigt und konjunkturell verschärft

Der Fachkräftemangel bleibt eine zentrale Herausforderung für Thüringen. Besonders betroffen sind technische Berufe, IT, Pflege und das Bauwesen. Die sogenannte Vakanzzeit – die durchschnittliche Dauer, bis eine offene Stelle besetzt wird – ist ein deutliches Indiz: Aktuell dauert es 135 Tage, eine Fachkraft zu finden, im Hochbau sogar 290 Tage.

Die Lücke zwischen Arbeitslosigkeit und Fachkräftebedarf wird größer. Nur mit gezielter Weiterbildung und dem Blick über das eigene Berufsfeld hinaus können wir vorhandene Potenziale heben.

Bildung, Ausbildung, Qualifizierung – das Rückgrat der Arbeitsmarktstrategie

Ein zentraler Hebel zur Schließung dieser Lücke ist Bildung. Insbesondere junge Erwachsene ohne Berufsabschluss stehen vor gravierenden Herausforderungen: In Thüringen waren 2024 rund 7.100 Personen im Alter von 25 bis unter 35 Jahren arbeitslos – 55 Prozent davon ohne Berufsausbildung. Helfer*innen-Tätigkeiten werden jedoch zunehmend verdrängt, während qualifizierte Fachkräfte dringend gesucht werden.

Die Initiative „Zukunftsstarter“ der Bundesagentur für Arbeit setzt hier an: Sie unterstützt junge Erwachsene bei der Nachqualifizierung und dem Erwerb eines Berufsabschlusses. Eine abgeschlossene Ausbildung senkt nicht nur das Arbeitslosigkeitsrisiko, sondern erhöht auch die Verdienstmöglichkeiten – im Median um über 600 Euro monatlich.

Tortendiagramm zeigt das Missmatch von Arbeitslosen und gemeldeter Stellen

Integration von Geflüchteten – Zuwanderung als strategische Notwendigkeit

Ein weiterer Baustein zur Stabilisierung des Thüringer Arbeitsmarkts ist gezielte Fachkräftezuwanderung. Insbesondere Geflüchtete aus Syrien und der Ukraine spielen dabei eine zunehmend wichtige Rolle. Die Zahl ukrainischer Beschäftigter stieg 2024 um 38 Prozent.

Doch die Integration verläuft nicht automatisch: Sprachbarrieren, bürokratische Hürden bei der Anerkennung von Abschlüssen und lange Verfahren bremsen das Potenzial. Die Bundesagentur für Arbeit übernimmt hier mit der Zentralen Servicestelle Berufsanerkennung (ZSBA) eine Lotsenfunktion. Die Vielzahl beteiligter Behörden, mangelnde Digitalisierung und komplizierte Zuständigkeiten machen den Prozess zu langsam. Hier können alle Beteiligten besser werden.

Balkendiagramm zeigt den überproportionalen Anstieg ausländischer Beschäftigten ggü. deutschen Beschäftigten im sozialversicherungspflichtigen Bereich
Logo der Bundesagentur für Arbeit - Regionaldirektion Sachsen-Anhalt-Thüringen

Fazit: Transformation aktiv gestalten – mit Qualifizierung, Zuwanderung und regionaler Vernetzung

Die Herausforderungen auf dem Thüringer Arbeitsmarkt sind groß – konjunkturell wie strukturell. Doch sie sind nicht unüberwindbar. Digitalisierung, Qualifizierung, gezielte Fachkräftezuwanderung und ein gut funktionierendes Ausbildungssystem sind die Stellschrauben, mit denen Thüringen die Wende schaffen kann.
Der Freistaat steht an einem Scheideweg. Wird es gelingen, durch vorausschauende Arbeitsmarktpolitik, Investitionen in Bildung und Digitalisierung sowie durch bessere Zuwanderungsstrategien die Weichen für eine stabile Zukunft zu stellen? Die Voraussetzungen sind da – es braucht jetzt politischen Mut, wirtschaftliches Engagement und gesellschaftliche Kooperation, um sie zu nutzen.