„Wir können auch einmal stolz auf das bisher Erreichte sein.“
Interview mit Sven Nobereit, Verband der Wirtschaft Thüringens
Sven Nobereit ist Geschäftsführer für Sozial- und Arbeitsmarktpolitik beim Verband der Wirtschaft Thüringens. BLEIBdran+ hat mit ihm über Geflüchtete auf dem Arbeitsmarkt gesprochen.
BLEIBdran+: In den letzten Jahren haben schon viele Geflüchtete in Thüringen auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können. Wie bewerten Sie die Entwicklung bei der Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten in den letzten Jahren?
Sven Nobereit: Wir können stolz auf das bisher Erreichte sein. Es gibt Hürden und Rahmenbedingungen, die teilweise ungünstig sind. Angesichts der hohen Zuzugszahlen haben wir aus meiner Sicht gute Ergebnisse erzielt. Da können wir uns auch einmal auf die Schulter klopfen. Die hohen Zugangszahlen haben uns eine Zeit gefordert. Die Kommunen hatten zu tun, damit umzugehen und eine gute Politik zu gestalten. Wir haben aktuell 12.000 Menschen aus den Hauptasylherkunftsländern, die sozialversicherungspflichtig in Thüringen beschäftigt sind, und weitere 5.000 sv-pflichtig beschäftigte Menschen aus der Ukraine. Die Integrationsquote liegt – je nach Quelle – zwischen 65 und 68 %. Bei den Ukrainern und Ukrainerinnen ist das zwar weniger, aber insgesamt eine bemerkenswerte Quote. Denn wir blicken ja hier auf einen relativ kurzen Zeitraum von zehn Jahren beziehungsweise zwei Jahren zurück.
Da sind Menschen aus anderen Teilen der Welt gekommen, die nichts mit Deutsch zu tun hatten, und jetzt bereits gut, manche sogar sehr gut die deutsche Sprache beherrschen – aber natürlich nicht alle. Das hat auch strukturelle Gründe, auch die Vorbildung spielt hier eine Rolle. Die Integrationsmaßnahmen und die Investitionen, die man getätigt hat, haben sich gelohnt, vor allem gesamtgesellschaftlich. Auch den vielen Akteuren und Akteurinnen, die bei der Integration aktiv sind, ist ein großer Dank auszusprechen. Es war eine Mammutaufgabe – das ist es weiterhin. Aber wir müssen mit der Situation umgehen.
Wir haben die nachhaltige Integration im Blick – also qualifikationsadäquat auch das Erlernen der deutschen Sprache zu Beginn. Die Chancen sind höher für eine langfristige Integration, wenn man die deutsche Sprache ordentlich vermittelt. Das ist nun endlich auch berufsbegleitend besser möglich. Volkswirtschaftlich ist es effizienter, eine Stelle mit jemandem mit entsprechender Qualifikation zu besetzen. Jedoch wird es niemandem verwehrt, einen Job anzunehmen, der unterhalb seiner oder ihrer Qualifikation liegt. Gerade, weil viele Betriebe auch interne Weiterbildungsmöglichkeiten anbieten, muss das kein schlechterer Weg sein.
BLEIBdran+: Sie haben angesprochen, dass die Integrationsmaßnahmen einen positiven Effekt hatten. Es gab eine hohe Erwartung seitens der Wirtschaft, schnell zu integrieren. Wo sehen Sie die Unternehmen, die sich in diesen Prozess begeben haben. Was haben Sie für Rückmeldungen erhalten?
Sven Nobereit: Die Unternehmen sind ja keine homogene Gruppe. Viele Unternehmen sehen in den Menschen, die in Deutschland ihre neue Heimat gefunden haben, eine Chance, ihre freien Stellen zu besetzen. Aber sie haben unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Das kann man nicht festmachen an einer Ethnie oder an einem Länderhintergrund. Menschen sind so vielfältig wie unser Leben insgesamt. Und so sind auch die Erfahrungen, die die Unternehmen gemacht haben. Mit einer Person hat es vielleicht gut geklappt, mit einer anderen weniger gut. Aber ich nehme eine große Bereitschaft in den Unternehmen wahr.
Insgesamt habe ich den Eindruck, die Betriebe wissen mit den Menschen gut umzugehen. Wissen Sie, die Unternehmen, die einem Arbeitgeberverband beitreten, eint ja auch das Bewusstsein um die eigene gesellschaftliche Verantwortung. Für unsere Unternehmen zählt nicht so sehr, wo jemand herkommt, sondern wo der Mensch hinwill. Das geht los mit einer Anlerntätigkeit oder einer Ausbildung und setzt sich mit einer Weiterbildung im Betrieb fort. Ich habe die Rückmeldung bekommen, dass es bei Menschen, denen der Betrieb den Rücken gestärkt hat, eine hohe Mitarbeiterbindung gibt. Davon profitieren wir als Gesellschaft insgesamt.
BLEIBdran+: Aus Verbandssicht, wo sehen Sie die Hürden bei der Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten?
Sven Nobereit: Die Herausforderungen im Zuge der Fluchtbewegungen haben uns in Deutschland den Spiegel vorgehalten und gezeigt, wo es noch klemmt. Wie unsere Prozesse laufen: Schleppend, man ist nicht gut vernetzt, schon gar nicht digital.
Wir wollen alle Unterlagen in Deutsch haben und dennoch fließen die relevanten Daten nicht oder unzureichend von einer Stelle zur anderen. Das raubt uns wichtige Ressourcen. Das hat noch nicht einmal was mit den Menschen mit Fluchthintergrund zu tun, sondern das merken wir als Gesellschaft insgesamt.
Aber was denken die Menschen aus Ländern, in denen solche Prozesse bereits digital laufen? Sie kommen nach Deutschland – einen Weltmarktführer in vielen Bereichen – und erleben, dass die Verwaltungsprozesse so sehr stocken. Das muss frustrierend sein – das ist es aber auch für uns.
Die berufsbegleitenden Sprachkurse sind jetzt gekommen. Bereits im Jahr 2015 haben wir das gefordert. Ebenso eine zentrale Ausländerbehörde, als das Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FKEG) beschlossen wurde. Wir brauchen eine koordinierende Stelle, die nicht nur für das schwierige Thema Abschiebungen verantwortlich ist, sondern vielmehr die Willkommenskultur im Fokus hat. Wir hoffen, dass eine neue Landesregierung endlich eine zentrale Ausländerbehörde für Thüringen schafft.
BLEIBdran+: Haben Sie einen Einblick, wie es bei den berufsbegleitenden Sprachkursen läuft?
Sven Nobereit: Es hat wohl etwas Zeit gebraucht, aber die berufsbegleitenden Sprachkurse werden mehr und mehr genutzt. Schwierigkeiten gibt es wegen teilweise zu geringen Teilnehmerzahlen und der Unsicherheit durch das sogenannte Herrenberg-Urteil des Bundessozialgerichts. Frei arbeitende Dozenten und Dozentinnen müssen sich nunmehr anstellen lassen. Das wollen aber viele nicht. Es gibt daher große Verunsicherung in der Trägerlandschaft. Das müssen wir dringend ändern, sonst gibt es keine Kurse mehr. Hier erwarte ich eine schnelle und unkomplizierte Problemlösung durch den Gesetzgeber.
Insgesamt müssen sich die Kurse mehr am Arbeitsalltag orientieren. Und gerade das gestaltet sich herausfordernd. Gerade in Unternehmen, die dezentral organisiert sind, z. B. durch Baustellen, Montage oder im Bereich der Zeitarbeit, ist das Thema Sprachvermittlung schwierig, weil nicht alle an einem Ort sind.
Sprachkenntnisse sind ein Thema, bei dem es der Trägerlandschaft gelingen muss, mehr am Lebensrhythmus angepasst zu sein. Online-Kurse sind toll, werden aber weniger genutzt, wenn es vorher nicht Präsenzkurse gab, bei denen sich auch eine kleine Community entwickelt hat.
BLEIBdran+: Bei der Bindung von Mitarbeiter*innen spielt die Frage von Qualifizierungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten eine Rolle. Wo sehen Sie aus Verbandssicht noch Luft nach oben?
Sven Nobereit: Es gibt ja die Chance, über eine Anlerntätigkeit in einen Betrieb reinzuwachsen oder die Möglichkeit einer Teilqualifizierung zu nutzen. Gerade, wenn die Sprachkenntnisse noch nicht vorhanden sind, wird es schwierig, im selben Job zu arbeiten wie im Heimatland,
z. B. wenn man in der öffentlichen Verwaltung tätig war oder in einem anderen Bereich, in dem es auf die Sprache ankommt. Ich bin zum Beispiel Soziologe und müsste – wollte ich im Ausland als solcher arbeiten – über hervorragende Sprachkenntnisse verfügen. Das ist eine Grundvoraussetzung. Natürlich kann man reinwachsen. Aber ein gewisses Sprachniveau muss da sein.
Diese Chance sollte insbesondere unsere öffentliche Verwaltung den Menschen geben. Ich nehme wahr, dass zum Beispiel verschiedene Sozialversicherungsträger diesen Weg gehen und aktiv Migrantinnen und Migranten für eine Ausbildung werben. Chancen ergeben sich m. E. jedoch auch in den Kommunalverwaltungen – auch, wenn das Sprachniveau noch nicht ausreicht.
Das zweite, an dem wir arbeiten müssen, ist die Erhöhung der Integrationsquote von Frauen. Gerade bei Herkunftsländern des nahen und mittleren Ostens und Mittelasiens ist das – vielleicht auch aufgrund der Tradition – besonders herausfordernd.
Ostdeutschland zeichnet sich durch einen wesentlich höheren Anteil von Frauen im Erwerbsleben aus. Das liegt nicht nur an der teilweise immer noch besseren Kinderbetreuung, sondern auch an der hohen Selbstbestimmtheit unserer Frauen und an der Selbstverständlichkeit, berufstätig zu sein. Im Gespräch mit den Kolleginnen und Kollegen unserer Schwesterverbände in den alten Bundesländern oder mit der Bundesagentur für Arbeit (BA) bekomme ich die Erfahrungen widergespiegelt, dass die Ergreifung eines Jobs für Frauen dort wahrscheinlicher ist, wo es für Frauen selbstverständlicher ist, ihr eigenes Geld zu verdienen und wo sich Beruf und Familie besser miteinander verknüpfen lassen.
Thüringen ist so ein Chancenland durch unsere Demografie und unsere Wirtschaftsstruktur. Wir bieten für alle Menschen hervorragende Ausbildungs- und Karrieremöglichkeiten sowie die Chance, bereits in jungen Jahren eine Führungsposition zu übernehmen.
BLEIBdran+: Wir blicken auf die Landtagswahl. Was beschäftigt den VWT? Gab es Reaktionen von den Mitgliedsunternehmen?
Sven Nobereit: Wir brauchen verlässliche Rahmenbedingungen, positive Signale und eine stabile Landesregierung. Aus Sicht der Wirtschaft wurden die letzten zehn Jahre mehr verwaltet als gestaltet. In Richtung Wirtschaft ist da nicht so viel gelaufen, wie wir uns gewünscht hätten. Das betrifft insbesondere den Abbau von Bürokratie. Zusätzliche Hürden wurden z. B. mit dem Vergabegesetz aufgestellt, das an der Lebenswirklichkeit der Betriebe vorbeigeht.
Die überbordende Bürokratie und die immer zahlreicher werdenden Berichtspflichten machen nicht nur den Betrieben das Leben schwer, sondern spielen auch bei der Integration eine große Rolle. Formulare, Formulare – und alles muss in Deutsch sein.
Aber mit Blick auf Geflüchtete es ist wichtig, dass wir als Gesellschaft gemeinsam die Integration der Menschen vorantreiben, die sich Thüringen als neue Heimat ausgesucht haben. Denn wir werden aufgrund der Demografie auch weiterhin auf Fach- und Arbeitskräftezuzug angewiesen sein.
BLEIBdran+: Geflüchtete suchen sich aber nicht aus, nach Thüringen verteilt zu werden. Viele von ihnen würden ja einen Bogen um Thüringen machen.
Sven Nobereit: Ich komme auf den Anfang zurück. Wir müssen auf den Erfolgen, die wir uns erarbeitet haben, aufbauen. Wir schaffen es doch, Menschen gut in Arbeit zu bringen. Fest steht, wir brauchen diese Menschen. In den nächsten zehn Jahren verabschiedet sich ein Viertel der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Thüringen in die Rente. Ich halte es für unsere gesellschaftliche Pflicht, Menschen eine Perspektive zu geben.
Das Image von Thüringen – ganz ehrlich – ist ja nicht erst seit der Landtagswahl unter Beschuss. Wir hatten schon immer mit einem negativen Image zu kämpfen. Medial war Thüringen immer ein Schmuddelkind: zu viel Bratwurst, ein „roter“ Ministerpräsident oder andere Dinge. Irgendwas hat man immer gefunden. Aber die Menschen, die hier sind, fühlen sich wohl. Das betrifft mittlerweile auch viele Zugewanderte.
Es fehlt eine ordentliche Imagekampagne. Wir haben ja jetzt schon Probleme, deutsche Jugendliche aus Regionen mit einer höheren Arbeitslosenquote nach Thüringen zu bewegen, auch wenn sie händeringend einen Ausbildungsplatz suchen. Wenn woanders ein negatives Thüringenbild herrscht, gibt es dort auch zu wenig Hinweise, dass Thüringen gute Chancen bietet. Hier erwarte ich auch von der Bundesagentur für Arbeit eine bessere Vernetzung.
Wichtig ist darüber hinaus das Zusammenwachsen im Betrieb. Wir haben das von unserem Bildungswerk der Thüringer Wirtschaft (BWTW) geleitete Projekt „Zuhören, Verstehen, Handeln“. Da geht es um das Verständnis füreinander und um Vielfalt im Unternehmen. Die Menschen sind doch alle unterschiedlich. Und das ist gut so. Wir sind keine Roboter, die alle gleich ticken. Davon lebt das Miteinander. Das macht das Leben so spannend.
Unsere Fachbereiche selbst sind darüber hinaus in vielen Gremien aktiv und setzen sich für Offenheit, Vielfalt und Weltoffenheit ein. Thüringen ist ein Export- und ein Transitland, das auf Weltoffenheit, Freizügigkeit und den freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen angewiesen ist. Wir müssen uns für diese neue Zukunft aufstellen, gern auch mehr Fremdsprachen im Unternehmen ausprägen.
Die Betriebe, die schon Menschen an Bord haben, die mit einer Fremdsprache aufgewachsen sind, tun sich leichter mit dem On-Boarding. Und wir erkennen: Wir haben einen Arbeitnehmermarkt. Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen entscheiden immer öfter selbst, ob sie im Betrieb bleiben. Da muss man die Rahmenbedingungen so setzen, dass sie bleiben, weil die Teamarbeit stimmt und man sich weiterentwickeln kann. Wichtig ist hierbei auch eine gute Kommunikation.
Verschweigen darf man jedoch nicht, dass die Probleme, die es vorher schon gab – z. B. knapper Wohnraum, überfüllte Schulklassen, schlechter ÖPNV, Probleme bei der Arztsuche – durch Zuzug weiter verschärft wurden. Das Problem sind jedoch nicht die Zugezogenen. Wir haben es vielmehr versäumt, die Probleme bereits vorher zu lösen. Jetzt sind wir als Gesellschaft in der Pflicht, das mit einer klugen Politik zu bewältigen. Da werden Menschen irgendwie untergebracht in einer Turnhalle mit Null Intimsphäre. Und bei den hiesigen Kindern fällt der Unterricht aus. Mit solchen Aktionen werden Menschen gegeneinander ausgespielt – das ist unwürdig. Die Ansammlung der vielschichtigen und ungelösten Probleme bringt die Menschen gegeneinander auf. Das ist nicht hinnehmbar.
Wir können das Verständnis für die unterschiedlichen Kulturen nur durch Transparenz und Offenheit lösen. Wenn uns das gelingt, sind wir auf einem guten Weg. Es gibt Sorgen und Ängste auf allen Seiten. Diese Ambivalenzen dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren und müssen die damit einhergehenden Herausforderungen aktiv angehen. Da hilft es nicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Denn sonst gibt das den Populisten weiteren Aufwind, was für unser Land fatal wäre.
BLEIBdran+: Herzlichen Dank für das Interview!