Interview mit Claudius Voigt zur Sicherung des Lebensunterhalts

Claudius Voigt von der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender (GGUA) hat für den Paritätischen Gesamtverband eine Arbeitshilfe veröffentlicht, die bei unseren BLEIBdran+-Berater*innen auf viel Liebe gestoßen ist. Denn die Lebensunterhaltssicherung im Aufenthaltsgesetz scheint manchmal wie eine Wissenschaft für sich. Wir durften Claudius Voigt ein paar Fragen stellen:

BLEIBdran+: Was macht die Prüfung der Lebensunterhaltssicherung so komplex? Welche unterschiedlichen Maßstäbe werden herangezogen?

Claudius Voigt: Bei der Prüfung, ob der Lebensunterhalt gesichert ist, muss fast immer individuell gerechnet werden.

Diese Prüfung ist davon abhängig, wie alt eine Person ist, wie viele Personen in einer Familie leben, wie teuer die Miete ist. Und hinzu kommt: Beim Einkommen müssen auch noch schwierige Berechnungen vorgenommen werden, denn nicht das Netto-Einkommen ist das Entscheidende, sondern das so genannte „bereinigte“ Einkommen.

Es müssen bestimmte Freibeträge abgezogen werden, die auch das Jobcenter nicht als Einkommen anrechnen würde. Diese Freibeträge, die seit dem letzten Jahr auf bis zu 378 Euro gestiegen sind, führen dazu, dass selbst mit einem ganz guten Vollzeit-Job der Lebensunterhalt unter Umständen nicht als gesichert gilt. Denn die entscheidende Frage ist dabei immer, ob ergänzend noch ein Anspruch auf Leistungen vom Jobcenter bestehen würde – obwohl diese vielleicht gar nicht in Anspruch genommen werden müssen.

Bei der Prüfung der Lebensunterhaltssicherung muss man also als Ausländerbehörde oder als Beratungsstelle dieselbe Berechnung machen, wie sie auch ein Jobcenter bei einem Bürgergeldantrag machen würde. Und das ist schon ziemlich komplex.

BLEIBdran+: Wie wird der Lebensunterhalt bei der neuen Ausbildungsaufenthaltserlaubnis (§ 16g AufenthG) berechnet?

Claudius Voigt: Hier hat man eine andere Regelung beschlossen: Für § 16g AufenthG gilt der Lebensunterhalt als gesichert, wenn das Einkommen pauschale Richtwerte erfüllt.

Diese Richtwerte orientieren sich an den BAföG-Sätzen für schulische Ausbildungen und liegen zwischen 262 und 736 Euro – je nach Form der Ausbildung und abhängig von der Frage, ob man Kosten für die Wohnung hat oder nicht.
Als Einkommen zählt hier die Ausbildungsvergütung plus die Berufsausbildungsbeihilfe. Das macht die Prüfung schon mal ein bisschen einfacher.

In bestimmten Fällen kann man auch zusätzlich Leistungen vom Jobcenter beanspruchen, ohne Probleme mit der Ausländerbehörde zu bekommen.

Aber: Vor allem für Personen in einer schulischen Berufsausbildung ohne Bezahlung wird es kaum möglich sein, den Lebensunterhalt zu sichern. Denn absurderweise hat die Gesetzgeberin beschlossen, den Betroffenen keinen BAföG-Anspruch zu gewähren. Das heißt: Menschen in schulischer Ausbildung werden kaum in die neue Aufenthaltserlaubnis kommen können, sondern müssen weiterhin in der schlechteren Ausbildungsduldung bleiben – obwohl diese ja eigentlich überwunden werden sollte.

BLEIBdran+: Die Komplexität der Prüfung des Lebensunterhalts bindet nicht nur Kapazitäten in Beratungsstellen, sondern auch in den teils überlasteten Behörden. Hast du einen Vorschlag, wie die Prüfung der Lebensunterhaltssicherung vereinfacht bzw. praktikabler gestaltet werden könnte?

Claudius Voigt: Das Wichtigste wäre: Das Dogma der Lebensunterhaltssicherung im Aufenthaltsrecht muss überwunden werden. Wir sehen momentan, dass Aufenthaltstitel zunehmend davon abhängig gemacht werden, dass der Lebensunterhalt eigenständig gesichert ist. Das wird ja künftig sogar bei der Einbürgerung eine viel größere Rolle spielen, als bisher.

Diese Ideologie wird aber der Lebenswirklichkeit nicht gerecht: Menschen verlieren ihre Arbeit, sie werden schwanger, sie werden krank, sie „funktionieren“ nicht immer so, wie das erwartet wird. Und dann droht sehr häufig, dass ihnen ausländerrechtlich der Boden unter den Füßen weggezogen wird und der Aufenthaltstitel gefährdet ist.

In den Beratungsstellen haben wir immer wieder Auszubildende oder Studierende, die schwanger werden und nicht mehr arbeiten oder studieren können. Fast immer haben sie große Angst, dass die Ausländerbehörde ihnen dann ihren Aufenthalt wegnimmt. Da wird die Entscheidung für oder gegen ein Kind nicht selten von aufenthaltsrechtlichen Erwägungen geleitet. Das darf nicht sein!

Diese Verwertbarkeitslogik, die im Aufenthaltsrecht immer mehr Einzug hält, ist hochgradig gefährlich. „Keine Zuwanderung in die Sozialsysteme“ ist eine Parole, die früher vor allem an den Stammtischen der Rechtspopulist*innen und Rechtsradikalen zu hören war. Jetzt ist sie Mainstream und findet sich etwas feiner ausgedrückt an immer mehr Stellen im Gesetz.

Konkret müsste es aus meiner Sicht viel mehr klare Schutzregelungen geben, wenn man zum Beispiel die Arbeit oder die Ausbildungsstelle verliert. Es müsste geregelt werden, dass der Lebensunterhalt in bestimmten Fällen, zum Beispiel bei der Familienzusammenführung, nicht für alle gesichert sein muss, und es müsste grundsätzlich mehr Ausnahmemöglichkeiten geben.

Es sollte klargestellt werden, dass das Wohngeld wie auch das Kindergeld oder der Kinderzuschlag eine „unschädliche“ Leistung darstellen, und es müsste die negative Berücksichtigung der schon erwähnten Freibeträge gestrichen werden.

Die Überzeugung, man müsse sich sein Aufenthaltsrecht erst einmal „verdienen“, basiert auf einer Nützlichkeitsideologie, die für eine offene und moderne Gesellschaft fatal ist. Denn das Signal ist: Du gehörst nie richtig dazu.