Erfolge & schmerzhafte Kompromisse

Interview mit Reem Alabali-Radovan

Die letzten Jahre waren von zahlreichen Gesetzesänderungen geprägt – manche davon hatten positive Auswirkungen auf Geflüchtete, andere sind sehr nachteilig für diese. Wir freuen uns, dass Reem Alabali-Radovan, Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration, BLEIBdran+ ein Interview gegeben hat, in dem wir auf die Bilanz der Ampelregierung blicken.

Portraitoto der ehem. Staatsministerin

BLEIBdran+: Welche positiven Änderungen wurden in der Legislaturperiode 2021–2025 für Geflüchtete erreicht?

Reem Alabali-Radovan: Ich nenne hier mal drei wichtige Beispiele. Erstens: Wir haben Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine EU-weit ohne Asylverfahren vorübergehenden Schutz nach EU-Recht gewährt. Das war ein historischer Beschluss und Staaten wie Polen, Tschechien und Deutschland haben Außergewöhnliches bei der Aufnahme geleistet – bis heute. Viele Kinder, Jugendliche und ihre Eltern aus der Ukraine können so ihr Leben ohne tägliche Angst vor russischen Angriffen leben.
Zweitens: Wir haben ein Chancen-Aufenthaltsrecht geschaffen, das vielen seit längerer Zeit in Deutschland aufhältigen Menschen mit einer Duldung die Perspektive auf einen dauerhaften rechtmäßigen Aufenthalt eröffnet. Bis zu 135.000 Menschen können von dem Chancen-Aufenthaltsrecht profitieren und ich setze mich dafür ein, dass das Gesetz für ein Chancen-Aufenthaltsrecht entfristet wird.

Drittens: Wir haben einige Beschäftigungsverbote für Asylbewerber*innen und geduldete Menschen in Aufnahmeeinrichtungen verkürzt. Es bringt niemandem etwas, wenn Menschen viele Monate lang vom deutschen Arbeitsmarkt ferngehalten werden.

BLEIBdran+: Gab es auch Neuerungen, die Sie kritisch sehen und wenn ja, warum?

Reem Alabali-Radovan: Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) hat gemischte Ergebnisse gebracht. Es mussten durchaus schmerzhafte Kompromisse gemacht werden, damit nach Jahrzehnten des Stillstandes endlich ein Durchbruch auf europäischer Ebene erreicht werden konnte: Es geht vor allem um mehr Solidarität und Verantwortungsteilung in der EU. Kritisch sehe ich, dass im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts eine zwölfmonatige Vorduldungszeit für gut integrierte Jugendliche und junge Volljährige vereinbart wurde. Gerade diejenigen, die sich unter schwierigen Bedingungen erfolgreich in der Schule angestrengt haben, werden mit dieser Regelung in eine Wartezone verwiesen, das muss besser geregelt werden.

BLEIBdran+: Gibt es Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag, bei denen Sie bedauern, dass sie nicht umgesetzt wurden?

Reem Alabali-Radovan: Wir hätten bei der Aufhebung der Beschäftigungsverbote für Asylbewerber*innen und geduldete Menschen noch ein Stück mutiger sein können. Wir verlieren hier oft sehr viel Zeit, bevor Menschen, die zu uns kommen, endlich arbeiten oder eine Berufsausbildung beginnen dürfen. Mehr Pragmatismus ist hier weiterhin meine Linie.

Außerdem ist es sehr bedauerlich, dass die Vorhaben für ein Demokratiefördergesetz und ein Bundespartizipationsgesetz nicht umgesetzt werden konnten.

BLEIBdran+: Was muss die nächste Bundesregierung Ihrer Meinung nach auf jeden Fall angehen?

Reem Alabali-Radovan: Wichtig ist, dass wir unser modernes Einwanderungsland weiter gut aufstellen, den Flüchtlingsschutz ernst nehmen, Integration verbessern und mehr Fach- und Arbeitskräfte für unser Land gewinnen. Wir dürfen nicht hinter die erreichten Erfolge zurückfallen.

BLEIBdran+: Wie kann es gelingen, populistischen Debatten, die sich gegen Geflüchtete richten, etwas entgegenzusetzen?

Reem Alabali-Radovan: Das ist nicht einfach, weil die Erfahrung der letzten öffentlichen Debatten zeigt, dass Daten, Fakten und amtliche Informationen alleine häufig nicht ausreichen gegen gefühlte Wahrheiten, Populismus und Hetze. Alle sind hier gefragt. Es geht auch darum, ein mutiges, klares und dauerhaftes Engagement der Zivilgesellschaft zu unterstützen, an jedem Ort in diesem Land. Viele setzen sich ein für die Einhaltung von Menschenrechten, für Geflüchtete, für mehr Miteinander und unseren Zusammenhalt. Das verdient großen Respekt und jede Unterstützung, das müssen wir weiter stärken.