Integration kann nur im Miteinander gelingen!
Interview mit Mirjam Kruppa
Mit Mirjam Kruppa, die seit 2015 mit einer kleinen Unterbrechung Beauftragte für Integration und Migration ist, blicken wir auf die vergangene Legislaturperiode in Thüringen zurück. Wir sprechen mit ihr über Errungenschaften ebenso wie über Hürden der Integration.
BLEIBdran+: Welche positiven Änderungen hat die Landesregierung in der letzten Legislaturperiode für Geflüchtete erreicht?
Mirjam Kruppa: In der vergangenen Legislaturperiode hat die Landesregierung Integrationsstrukturen gestärkt und ausgebaut. Grundlage und Leitfaden dafür bildet das „Thüringer Integrationskonzept – für ein gutes Miteinander!“ Die darin enthaltenen Maßnahmen sind vielfältig und in den unterschiedlichsten Handlungsfeldern und Ressorts verortet. Diese gilt es fortwährend aufeinander und auf sich ändernde Gegebenheiten abzustimmen. Das ist zuletzt auf Grundlage eines umfassenden thüringenweiten Beteiligungsverfahrens mit Teilnehmenden aus allen Akteursebenen geschehen. Vertreterinnen und Vertreter der Kommunen, Träger, Beratungseinrichtungen, migrantischer und ehrenamtlicher Organisationen haben gemeinsam geprüft und ausgewertet, welche Maßnahmen des Thüringer Integrationskonzeptes zielführend sind, wo nachjustiert oder ergänzt werden sollte. Auf dieser Grundlage wurde das Thüringer Integrationskonzept im September 2024 aktualisiert und durch die Landesregierung beschlossen.
Die Machtübernahme der Taliban im August 2021 war ein einschneidendes Ereignis während der letzten Legislaturperiode. Viele hier lebende Afghaninnen und Afghanen bangen seither um das Leben ihrer zurückgelassenen Angehörigen. Die Landesregierung hat mit der Einrichtung der Landesaufnahmeanordnung Afghanistan ihren Handlungsspielraum genutzt, um den Familien wenigstens eine kleine Möglichkeit zu bieten, enge Angehörige nachzuholen.
Auch die Aufnahme der geflüchteten Menschen aus der Ukraine stellte ab 2022 eine besondere Herausforderung dar. Hier konnte Thüringen auf bewährte Landesprogramme wie Start Deutsch und das Landesprogramm Dolmetschen zurückgreifen und diese schnell auf die neue Situation und damit verbundene Bedarfe adaptieren.
Ein wichtiges Anliegen der vergangenen Jahre war außerdem, die Rolle migrantischer Organisationen weiter zu stärken und ihre Perspektive bei der Entwicklung von Maßnahmen für Geflüchtete einzubeziehen. So wurde beispielsweise das Landesprogramm Herkunftssprachen entwickelt. Es greift das Anliegen zugewanderter Familien auf, die Mehrsprachigkeit ihrer Kinder zu erhalten und zu stärken.
BLEIBdran+: Gab es auch Neuerungen, die kritisch zu sehen sind?
Mirjam Kruppa: Die Fluchtbewegung aus der Ukraine nach dem Kriegsausbruch hat uns faktisch und rechtlich vor eine neue Situation gestellt. Die Aufnahme der Menschen auf der Grundlage von
§ 24 AufenthG unterscheidet sich vom Aufnahmeverfahren für andere Geflüchtete. Langwierige Asylverfahren und die damit verbundene Sorge um ihren weiteren Verbleib bleiben dieser Geflüchtetengruppe erspart. Sie können quasi unmittelbar nach ihrer Ankunft in Integrationsmaßnahmen starten. Das wäre auch für alle Geflüchteten im Asylverfahren wünschenswert.
Es wird dadurch deutlich sichtbar, wie integrationsfördernd es ist, wenn Geflüchtete von Anfang an in Kommunen leben und ihnen der Weg zu Deutschkursen, in die Kita, die Schule sowie in Ausbildungs- und Arbeitsmarkt umgehend offensteht. Die Wartezeiten in den Erstaufnahmeeinrichtungen, in denen die Menschen oft monatelang ausharren müssen, helfen niemandem. Und besonders kritisch werte ich sie dann, wenn die Unterbringung den Standards einer humanitären Unterbringung nicht gerecht wird. Das mussten wir leider besonders für die Unterbringung von Geflüchteten in der Lagerhalle in Hermsdorf so konstatieren. Aber auch die Landeserstaufnahmeeinrichtung in Suhl entspricht nicht den von mir geforderten Standards.
BLEIBdran+: Was muss die nächste Landesregierung auf jeden Fall angehen?
Mirjam Kruppa: Zu den wichtigsten Aufgaben gehört aus meiner Sicht die Verbesserung der Standards in den Landeserstaufnahmeeinrichtungen. Diese sollten als Ankommenszentren fungieren, in denen die Grundsteine für gute Integration gelegt werden. Das heißt nicht nur, dass die Geflüchteten dort humanitär untergebracht und versorgt werden, sondern auch, dass ihre besonderen Bedarfe und Potenziale identifiziert werden. Dies würde eine qualifizierte und auch den Bedürfnissen der Geflüchteten entsprechenden Verteilung in die Kommunen ermöglichen, die dann die Art der Unterbringung und Begleitung passgenau darauf ausrichten können. Integration in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt könnte so entsprechend schneller und zielgerichteter erfolgen, die Gesundheitsversorgung besser gewährleistet werden und Familien könnten auch über die Kernfamilie hinaus beisammen leben.
Eine weitere wichtige Baustelle der neuen Landesregierung sehe ich bei den Verfahren zur Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse. Die Prüfung entsprechender Anträge, beispielsweise ausländischer Ärztinnen und Ärzte, dauert bei uns viel zu lang. Andere Bundesländer sind hier schneller. Wir riskieren also faktisch, Fachkräfte zu verlieren, die wir so dringend brauchen. Hier müssen wir effektiver werden.
Angesichts der demografischen Situation in Thüringen ist die Feststellung „Deutschland ist ein Einwanderungsland“ Hoffnung und Aufgabe zugleich. Entsprechend sollten wir uns strukturell darauf einstellen, dass die Aufnahme von Zugewanderten nicht Ergebnis einer vorübergehenden Krise, sondern Daueraufgabe ist. Integration muss zur Pflichtaufgabe werden und die damit einhergehenden Strukturen müssen dauerhaft etabliert und gesichert werden. Dafür braucht es ein Gesetz und ausreichend finanzielle Mittel.
BLEIBdran+: Als Beauftragte für Integration, Migration und Flüchtlinge: welche Hürden wurden besonders oft an dich herangetragen?
Mirjam Kruppa: Eine der größten Herausforderungen für viele Geflüchtete ist das Warten. Gerade für Menschen, die sich aufgemacht haben, ihr Leben in die Hand genommen haben, um hierherzukommen, ist es unerträglich, dann von einem Tag auf den anderen in Warteschleifen zu hängen. Warten auf die Anhörung, Warten auf den Bescheid, Warten auf den Transfer, Warten auf einen Deutschkurs, Warten auf eine Arbeitserlaubnis… Ich halte es für ganz wichtig, Menschen so schnell wie möglich wieder ins „Machen“ zu versetzen, ihnen die Möglichkeit zu geben, ihr Leben zu gestalten, ihre Integration voranzubringen.
Genau das wird ihnen bei der monatelangen Unterbringung in Landeserstaufnahmeeinrichtungen verwehrt. Die beengten Verhältnisse, das Abhängigsein von Essenszeiten und fremden Köchen, wenig Privatsphäre und kaum Ruhe… All das sind Umstände, die Geflüchteten das Ankommen erschweren.
Ebenso integrationsfeindlich sind die Arbeitsverbote und Hürden bei der Erlangung einer Arbeitsgenehmigung, die nach wie vor viele Geflüchtete treffen.
Und eine letzte aber zentrale Hürde stellt die Ablehnung in Teilen der Gesellschaft dar, die vielen Geflüchteten entgegengebracht wird. Rassismus und Diskriminierung sind verbreitet und werden durch populistische Gruppen befördert. Hier sind wir als Gesellschaft massiv gefordert, aufmerksam zu sein und dagegen zu halten.
BLEIBdran+: Welche Errungenschaft macht dich besonders stolz?
Mirjam Kruppa: Integration ist super komplex und kann nur im Miteinander gelingen, und wenn wir uns breit aufstellen. Darauf habe ich von Anfang an mein Augenmerk gelegt, und zwar in jeder Hinsicht: Ich bin stolz darauf, ein Team aufgebaut zu haben, das in seiner Vielfalt und Kompetenz die unterschiedlichen Facetten von Integration abbildet und vertritt. Arbeitsmarkt und Bildung, Antidiskriminierung und Vielfalt, Kultur und Religion… Und ich bin stolz darauf, in einem starken und großen Netzwerk verankert zu sein: mit den Kommunen, den anderen Bundesländern und dem Bund, den Sozialverbänden, Kirchen, den Ministerien und Trägern und vor allem mit den migrantischen Organisationen im Land. Ihre Interessen vertrete ich. Ihre Perspektiven sind mir besonders wichtig.
Stolz machen mich außerdem Erfolgsgeschichten, an die keiner mehr geglaubt hat. Und zwar im Großen, wie unser Landesprogramm Dolmetschen, mit dem wir überall im Land die Verständigung von Zugewanderten in Behörden, Krankenhäusern, Frauenhäusern, Beratungsstellen… mittels Telefon- und Videodolmetschen sicherstellen. Hiermit ist Thüringen Vorreiter für viele Bundesländer geworden. Und die Erfolgsgeschichten im Kleinen: Wo ich in Einzelfällen helfen kann, durch Beratungsgespräche Perspektiven zu schaffen, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, oder im Rahmen der Härtefallkommission den Aufenthalt zu sichern.
BLEIBdran+: Wie kann es gelingen, populistischen Debatten, die sich gegen Geflüchtete richten, etwas entgegenzusetzen?
Mirjam Kruppa: Es wäre so schön, wenn es dafür eine einfache Antwort gäbe – doch die wäre dann wohl oder übel „populistisch“. Denn auf komplexe Herausforderungen gibt es nur komplizierte und vielschichtige Antworten. Wir haben viele echte Probleme in unserem Land: Klimakrise, Bevölkerungsrückgang, soziale Ungleichheiten, marode Infrastruktur… Die Hetze gegen Geflüchtete und das Kriminalisieren von Zugewanderten hilft niemandem, im Gegenteil. Sie schüren Rassismus und gefährden den gesellschaftlichen Frieden.
Ich denke, es ist wichtig, sich von den lauten Stimmen der Populisten nicht treiben und sie nicht die Themen diktieren zu lassen. Die Zahlen und Fakten geben ein ganz anderes Bild. Darauf können wir uns berufen und darüber hinaus das große „WIR“ zelebrieren. Mit „WIR“ meine ich die große Vielfalt der Gesellschaft, die uns so stark und widerstandsfähig macht: „WIR“ sind alt eingesessene und neu zugezogene Thüringerinnen und Thüringer, Handwerker*innen und Intellektuelle, Junge und Alte, Kranke und Gesunde, Träumer*innen und Strategen, Künstler*innen und Theoretiker*innen… „WIR“, das sind wir, die zusammen und jede und jeder auf ihre und seine Weise am gleichen Strang ziehen: für das Beste unserer ganzen Gesellschaft.
Eindrücklich gelungen ist das dem Klinikum Magdeburg nach dem furchtbaren Anschlag am 20. Dezember 2024. Meine Kollegin Susi Möbbeck aus Sachsen-Anhalt hat berichtet, dass nach dem Attentat fast alle Angestellten, also auch alle, die frei hatten, sofort ins städtische Krankenhaus gekommen sind, um die vielen Verletzten zu versorgen. Ein Großteil von ihnen hat Migrationsgeschichte. Dieser Einsatz wurde vom Krankenhaus mit Medienarbeit begleitet. Das waren starke Gegenbilder zur rassistischen Instrumentalisierung des Anschlags, die bewegt haben.